Das Magazin

Die grünste aller Welten

aus Das Magazin, Winter 2008

Den Architekten von MVRDV sind dafür alle Mittel recht: fliegende Schweine, schmusende Hochhäuser und ein Gebäude wie ein Hamburger.

Den Architekten von MVRDV sind dafür alle Mittel recht: fliegende Schweine, schmusende Hochhäuser und ein Gebäude wie ein Hamburger.

Rotterdam empfängt von seiner schönsten Seite. Das Meer treibt fauchend Regen den Schiedamse Dijk hinauf und Wolkenballen ziehen wie flüchtende Gnuherden am Himmel vorüber. Sie sind schiefergrau, wie der rohe Beton in MVRDV’s Besprechungszimmer. Hoch wie ein Turmzimmer, in kaltes Nordlicht getüncht. Ein Morgen wie eine Sonnenfinsternis.
MVRDV sind Winy Maas, Nathalie de Vries und Jacob van Rijs. Holländische Staatsbürger, Architekten, kaum 40 Jahre alt. Die Brut von Rem Koolhaas, dem Pritzker Preis Gewinner und Übervater aller global agierenden Architekten; und von Mecanoo dem Städtebau-Forschungslabor. Ihr Office in Rotterdam ist gross wie ein Fussballfeld. 65 vorwiegend blutjunge Architekten arbeiten an 40 Projekten weltweit. Innerhalb von 15 Jahren ist aus MVRDV eines der am häufigsten publizierten Architekturbüros der Welt geworden.  Von „el croquis“ der spanischen Architekturzeitschrift, welche jeweils eine Ausgabe exklusiv einem Architekten widmet und insgeheime Bibel aller Baumeister, liegen bereits 2 Telefonbuch dicke Ausgaben vor. Der Holländische Kulturminister nannte sie am vorläufigen Höhepunkt ihrer Karriere – dem holländischen Pavillon für die Weltausstellung  2000 in Hannover – „Helden eines neuen Zeitalters“.

Visionen
Mit dieser im Gepäck, reiste Winy Maas im Herbst 2002 an die berühmte Yale School of Architecture, um eine Vorlesung zum Thema „Über das Entwerfen und Bauen einer Stadt des 21. Jahrhunderts“ zu halten. Um die Herausforderungen, welche sich dabei ergeben zu illustrieren, zeigte er einen 30 Sekunden langen Film, welcher über jedem Flughafen einer westlichen Grossstadt hätte aufgenommen werden können. Während sich die Kamera behutsam in die Höhe schraubt, beginnen sich düstere Industriebauten, gesichtslose Bürogebäude, Schnell-Strassen, Brücken und Asphaltflächen zunehmend ins Bild zu rücken, bis sich ein monotoner Häuserbrei ins unendliche erstreckt. Die Zuhörer sollten sich selbst ein Bild von der Stadt des 21. Jahrhunderts machen. Maas war nicht der erste Architekt, welcher gegen diesen zementfarbenen Fussabdruck protestierte, welchen die Menschen – wie die Schleimspur einer Schnecke – auf dem Erdball hinterlassen, aber er war vielleicht der Erste, welcher vorschlug den Rest unseres endlichen Platzangebotes zu erhalten, indem er vehement die Idee einer „vertical suburbia“ verfocht. „Wie würde ich leben wollen, wenn ich 3 Kinder hätte, mit all ihren Fahrrädern, all ihren Freunden, mit Fussball spielen, herum jagen, auf Bäume klettern – ohne dabei protektionistisch zu sein?“ fragt Winy Maas, einer der drei Gründungsmitglieder kritisch. „Und dies alles im Zentrum der Stadt. Es wäre die Antwort auf eine Vielzahl von sozialen und ökologischen Problemen!“

Visionäre
Als der Architekt, Städteplaner und Künstler Le Corbusier, der Schweizerisch-Französische Ausnahmekönner ab den 1920er Jahren seine Visionen einer sozialen Grossstadt präsentiert, nimmt er viele heute noch aktuelle Themen vorneweg: Zu Grosskomplexen gestapelte Wohneinheiten, Verdichtung der Baumasse, Standardisierung, halböffentliche Gemeinschafts- und Grünräume zwecks Förderung eines sozialen Bewusstseins. In späteren Jahren entwickelt er das Prinzip der „ville radieuse“ eine streng in ihre unterschiedlichen Funktionen tranchierte Stadt. Diese Ideen sind gescheitert. In Hast und Missinterpretation wurden nach dem zweiten Weltkrieg Schlafstädte aus dem Boden gestampft. Monofunktionale Wohnwüsten, welche die grössten sozialen Problemherde am Rande der heutigen Städte bilden. Zürich Schwamendingen ist nur eine verniedlichte Miniaturform davon. An diesen Skizzen der Moderne wird bis heute weitergedacht, wobei MVRDV zu den aktivsten und radikalsten Weiterdenkern gehört. Müssen sie auch; 2008 lebten zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit mehr Bewohner in Städten und urbanen Konglomerationen denn auf dem Lande. Megacitys entstehen. Insbesondere die Ausbreitung der Vorstädte, der „urban sprawl“, ist den Raumplanern dabei ein Dorn im Auge. Identitäts- und eigenschaftslose Trabantenstädte sind die Folge. Die Sorge darüber, dass sich das Wachstum der Städte zu verselbstständigen droht, gipfelte 1996 in Rem Koolhaas Essay „Generic City“, der Stadt ohne Eigenschaften. Eine Stadt, die planlos alles überrollt was sich ihr in den Weg stellt. „Eine nimmersatte Krake, welche ihre Tentakel in alle Richtungen ausstreckt“, wie Isabelle Allende über Santiago de Chile zu berichten weiss. In seinem Text beschreibt Rem Koolhaas nämlich – in dessen Office for Metropolitan Architecture kurz OMA  Maas und Rijs gross geworden sind -, dass Stadtplanung obsolet und menschliches Handeln dem Lauf der Dinge unterstellt wird. Planung und Sicherheit weichen dem instinktiv-triebhaft-Unkontrollierbaren. Dieser blutrünstig-apokalyptischen Vision stellt MVRDV ihr eigenes Kredo gegenüber. „Es geht nicht darum die Stadt zu kontrollieren, aber darum sie besser verstehen zu lernen und neue städtische Muster zu identifizieren. Grenzen werden verschwinden.“ Sagt Maas.

Unorthodoxe Lösungen
„Wir versuchen auf verschiedenen Wegen zum Ziel zu gelangen, das ländlich-pittoreske mit dem Bestreben nach mehr Dichte zu verbinden“, fährt Maas fort. Das Parkrand Gebäude in Amsterdam, ein riesiger Wohnkomplex in der Peripherie Amsterdams, ersetzt den absorbierten Grünraum durch einen kollektiven Garten. Beim Torre Huerta in Valencia wiederum, hängen wir an jede einzelne Einheit einen auskragenden, beinahe fliegenden Garten.“ Im Projekt „didden village“, wird auf das Dach einer stillgelegten Fabrik ein Einfamilienhaus mit Satteldach, umgeben von einer königsblauen Gartenlandschaft aufgesetzt. „Es ist die Intention, die Stadt grüner und für die Gesellschaft lebenswerter zu machen.“ Erklärt Jacob van Rijs, der zweite Mitbegründer. Das Fehlen von Grünraum und privaten Aussenräumen ist eines der Hauptgründe, warum die Leute die Stadt verlassen. „Die holländische Gesellschaft ist im Herzen essentiell anti-urban. Das Leben in der Stadt, muss deshalb den Menschen nicht bloss schmackhaft gemacht, sondern darüber hinaus dem Leben auf dem Lande vorgezogen werden. Darum diese Suche nach dem künstlichen Vorgarten.“ Folgert Rijs.
Neu dabei ist ihre Arbeitsmethodik: Die klassische, sich durchdringende Entwurfskette, wo künstlerische Intuition und der Habitus des Architekten hochgehalten wird, weicht einem Research Prinzip. Informationen werden gesammelt und mit Hilfe von eigens entwickelten Computerprogrammen auf unterschiedlichste Parameter untersucht. Himmelsausrichtung, Sonnenscheindauer, Anzahl Zimmer, Anzahl Quadratmeter, Blickachsen und etwa Verbindungen werden auf ihre Kombinationsmöglichkeiten überprüft. Dabei interessiert nicht die Erfüllung einer Anzahl von Zwängen. „Vielmehr wird das System, beim schärfen und übertreiben der Zwänge zu seinen Extremen gezwungen“, erklärt de Vries. Unorthodoxe Lösungen tauchen auf; wie „Pig City“: Im Wissen darum, dass die holländische Viehwirtschaft – Holland hat 17 Millionen Schweine, soviele wie Einwohner – eine riesige Summe unverbauter Freiflächen konsumiert, schlägt MVRDV 80 Meter hohe, Energie autarke Hochhäuser mit integrierten Schlachthäusern vor, um die Landschaft von den ausufernden Viehwirtschaftsbetrieben zu entlasten. Die Energie wird durch ein Verfahren gewonnen, welches sich der Exkremente der Schweine bedient, und die Nahrung der Schweine wird in einer hauseigenen Fischzucht sicher gestellt. „Pig City“ zeichnet das Bild von übereinander geschichteten, grasbewachsenen, beinahe schwebenden Wiesen, auf welchen sich glückliche Schweine im Morast suhlen. Der holländischen Nordseeküste entlang aufgereiht, stehen sie Spalier für ein Umdenken in der europäischen Viehwirtschafts-Politik. Eine Architekturzeitschrift hat den Vergleich, zwischen einem Turm von Pig City und dem für Valencia konzipierten Wohnhochhaus „torre huerta“ gemacht und ist zum Schluss gekommen, dass beide Gebäude ungefähr gleich aussehen. „Durch Zufall“, sagt Winy Maas, „aber ich finde es eine sehr schöne Anekdote weil es zeigt, dass wir Tiere und unser landwirtschaftliches Umfeld genauso behutsam und feinfühlig wie Menschen und Städte behandeln sollten.“ Und Nathalie de Vries, das weibliche Besatzungsmitglied im Cockpit von MVRDV ergänzt lakonisch: „Entweder wir finden zufriedenstellende Lösungen für diese Tiere. Oder wir hören auf sie zu essen.“
Fliegende Schweine, geknickte schmusende Hochhäuser, blaue Dachgärten im verdichteten Stadtzentrum. Aufeinander gestapelte Landschaften, Grundrisse, in welcher die Horizontale durch die Vertikale aufgelöst wird. Spielende Kinder, welche sich anstatt hinter Bäumen, hinter Windrädern verstecken, welche nachhaltige Energie produzieren. Noch heute, bald 100 Jahre nach Fritz Langs Film über Metropolis, einer megalomanen Hochhausstadt, welche von kleinen Flugzeugen durchstochen wird, braucht es viel Überzeugungskraft, die Vision einer Welt zu verfechten, welche den Kopfstand probt.
Wer sind diese holländischen Senkrechtstarter? Und in der sogenannt realen Welt, würden all die grossartigen und für unmöglich gehaltenen Visionen Wirklichkeit werden?

MVRDV
Winny Maas, der Nachdenklichste, auf seine Art Melancholischste. Wasser-blaue Augen, die blond-grauen Haare ungezähmt, spricht er in Sätzen, die seinen Gedanken permanent hinter her hinken. Sie überschneiden sich, werden zuweilen unverständlich, verbleiben bruchstückhaft, bis sie sich mit dem letzten Wort wieder zusammen setzen. Er bildet das theoretische Fundament von MVRDV. Wenn Aaron Betsky, Direktor des niederländischen Architektur Instituts in Rotterdam die Arbeit von MVRDV mit dem Film Matrix vergleicht, wo die vermeintliche Wirklichkeit blosses Abbild von unendlichen Zahlensträngen ist, dann wäre Winy Maas wohl Leo, der Auserwählte; in dessen Händen Information zu Form wird.
Nathalie de Vries, eine zurückhaltende Frau mit sanftem Blick. Sie strahlt, sie lacht, sie ist selbst erstaunt über die Dinge, wie sie sind. Lakonisch, pragmatisch, eine aufmerksame Gastgeberin, entschuldigt sie ihre gute Laune mit dem Verzehr alkoholhaltiger Biscuits. Wenn ihr etwas am Herzen liegt, beginnt dieses merklich zu schlagen. Mit Nachdruck werden dann Gedankenstränge von Maas entzwirrnt, welche wie der hinaus gewürgte Haarballen einer Katze auf dem Besprechungstisch liegen bleiben.
Jacob Van Rijs, kein Kind von Traurigkeit. Schnatterhaft, während er eine halbe Kanne Kaffee über der massiven Eichenplatte verschüttet. Der Unbekümmertste, der Eleganteste, der Frivolste, der perfekte Schwiegersohn. Seine pech-scharzen Haare nach hinten gekämmt, in einem eng geschnittenen Anzug, lacht er vergnügt wenn er erzählt, dass er nicht gerne Zug fährt. Und trotzdem: Ihr gemeinsame Zusammenarbeit als MVRDV beginnt 1991 mit einer Reise nach Berlin, nachdem sie den prestige-reichen Wettbewerb für Architekten unter 40 Jahren mit dem Wohnbauprojekt „berlin voids“ gewannen. Dieses Projekt bleibt als Vorahnung ihrer imaginativen Sprengkraft in den Köpfen der Beteiligten haften, auch wenn es nicht zur Umsetzung kommt. Erst 2 Jahre später, 1993 gelangen sie an einen Bauherrn, welcher dem Trio seine Gefolgschaft anerbietet und 1997 in die Villa VPRO einzieht. Es zeigt sich für MVRDV zum ersten Mal, dass der Ehrgeiz, den Kontext in all seiner Vielschichtigkeit und all seinen Nuancen zu analysieren Früchte trägt. Es folgen weitere Grossprojekte wie WoZoCo’s, ein Wohnkomplex für ältere Menschen, Silodam, ein Wohngebäude in Amsterdam, die Casa doble, ein im Innenraum gefaltetes Doppelwohnhaus in Utrecht. Schliesslich der Holländische Pavillon für die Weltausstellung 2000 in Hannover, ihr internationaler Durchbruch. Zum Wohnkomplex Silodam, welcher sich am Kopfende eines ehemaligen Piers im Grossraum Amsterdam erhebt und welcher eine holländischen Zeitung als „Hipper Ozeandampfer, klar zum Auslaufen“, betitelte wird Nathalie de Vries einst sagen: „Die Forderung nach grösserer Vielfalt und ungewöhnlicheren Wohnungsformen nimmt überhand. Das ideale Haus hat ausgedient; es gibt tausend ideale Häuser.“
Aus ungefähr ebenso vielen Nationen scheint sich das MVRDV Nationalteam zusammenzusetzen: Holländer, Deutsche, Österreicher, Franzosen, Japaner, zuweilen auch Schweizer, welche an riesigen blauen Schaumstoff Modellen herummodellieren, die Köpfe verbrüdert über Skizzen und Plänen zusammenstecken oder hastig vor der Eingangstüre eine Zigarette rauchen. Draussen an der Dunantstraat 10, einer ehemaligen Druckerei, wo an schönen Tagen das klare Nordlicht durch hohe Rundbogenfenster in die offene Halle strömt. Es riecht nach Fisch und Druckerschwärze, und Seemöwen zerzausen unzufrieden die neblige Luft. Nur ein kleines Schild – MVRDV – schwarz auf weissem Grund, an der unscheinbaren Eingangstüre, in einem winzigen, von der Strasse aus eingezogenen Hof, verrät das bunte Treiben im Innern der alten Backsteinhalle, - wie die Möwen die Nähe zum Meer.
Das Meer als Tor zur Welt. "Es gibt keine Angst vor Fortschritt, vor Neuem in Holland. Unsere Herkunft, hat unser Denken in hohem Masse beeinflusst. Diese positive Sicht auf die Welt", erklärt Jacob van Rijs.

Projekte
Seit 2008 gewann MVRDV 5 internationale Architektur-Wettbewerbe. Einer der Spektakulärsten ist das Stadtentwicklungsprojekt „Tirana Rocks“, welches an eine balzende Kegelrobben Kolonie erinnert. Auskragende, gedrehte, übereinander liegende, sich aneinander schmiegende und schmusende Hochhäuser, welche eine Vielzahl unterschiedlichster Raum- und Programmtypologien suggerieren. Ein unkontrollierbarer öffentlicher Raum entsteht. „Es ist aufregend an einem Moment teilzuhaben, wo sich für ein Land die Möglichkeit bietet, sich neu zu erfinden“, erzählt Winy Maas dazu enthusiastisch. Visionen, Assoziationen und Metaphern sind in MVRDV’s Architektur zunächst wichtiger, als deren technische Ausführung. Gleichzeitig ist „Tirana Rocks“ jedoch Architektur, welche aus dem Verständnis für eine räumliche Verdichtung im Zeitalter der Globalisierung gewachsen ist. Die Dichte der Grossstadt und ihre verwirrende innere Widersprüchlichkeit in ästhetischer, sozialer und kultureller Hinsicht machen nach dieser Interpretation deren Reiz und Qualität aus. Viele Bauten und Entwürfe sind von diesem Verständnis geprägt. MVRDV geht es dabei um die Funktion des Bauwerks als sozialen Katalysator, also um die bewusste und oft auch provokative Beeinflussung sozialen Verhaltens durch Architektur. Wie auch bei der Villa VPRO, welche als MVRDV’s Manifest gilt, auch wenn sie dies nicht so deklarieren wollen. „Wir können uns nicht auf ein Projekt festlegen. Alle waren und sind uns wichtig.“ Sagt Maas.

Villa VPRO
Die Fernseh- und Audio Produktionsfirma VPRO suchte als Ersatz für ihren alten Arbeitsplatz, welcher aus einer Gruppe von 13 Villen bestand, eine zeitgenössische Antwort in Form eines Neubaus. Das Programm, von einem Immobilienberater ausgearbeitet, wurde als erstes in Frage gestellt und schlussendlich über Bord geworfen. Eine klassische Bürohaus Komposition kam nach Betrachtung von MVRDV nicht in Frage. „Die Angestellten von VPRO sind alles individualistische Einzelkämpfer-Typen, kreativ, aber egoistisch. Wir entdeckten, dass sie ihr volles Potenzial nur ausschöpfen können, wenn wir ihnen genügend Fläche für Konfrontation, aber auch genügend Fläche für Zurückgezogenheit bieten.“ Erzählt Winy Maas. Ausserdem spielten über die Jahre hinweg die alten Villen eine vitale Rolle, bei der Entwicklung VPRO’s Identität. Die Frage wurde aufgeworfen, ob die informelle Art, in welcher die alten Häuser genutzt wurden, immer noch Platz in einem modernen Bürogebäude – entworfen für maximale Effizienz – haben würde. Würde die Informalität fähig sein den Massstabssprung zu überleben und einen Ansatzpunkt bieten, die alten Villen in den Entwurf einfliessen zu lassen? Die räumliche Struktur einer klassischen Villa sowie die kontextuellen Einflüsse führten zum „tiefsten Bürogebäude von ganz Holland“. Ein offen-fliessender, sich über die Stockwerke hinaus durchdringender Grundriss mit serpentinenartigen Innenhöfen, welche den Einfall von natürlichem Licht mit dem Ausblick auf die Landschaft verbinden und wo die Grenze zwischen innen und aussen beinahe verschwimmt. Die saftig grüne Wiese, welche dem Gebäudekörper weichen musste, wurde durch ein bedecktes Grasdach ersetzt, unter welchem sich eine „geologische Gesteinstransformation“, wie dies in der spanischen Architekturzeitschrift el croquis beschrieben wurde, in Form der verschiedenen Stockswerke abzeichnet. Diese sind durch unterschiedlichste Mittel wie Rampen, gestufte Böden, monumentale Treppen oder kleine, steile Aufgänge unter einander verbunden und führen zum begehbaren Dach. Die unterschiedlichen Höhen im kontinuierlichen Innenraum und die durch Lichthöfe ausgebildeten Gebäudeflügel ermöglichen vielfältige Arbeitsumgebungen in unterschiedlichen Bürotypologien, um dem unstillbaren Hunger nach ständig wechselnden Raumsituationen, welche die Arbeit von VPRO voraussetzt, gerecht zu werden. Wohnzimmer, Attika, Halle, Innenhof und Terrasse, alle diese klassischen Raumtypologien sind neu interpretiert worden, diesmal im Zeichen der Transparenz, ohne kleinen Fenster, sondern mit stockwerkshohen Glasscheiben, welche praktisch jedem Büro Zutritt zu einem privaten Aussenraum gewähren. Mit den überschlanken Stützen, – welche wie ausgehungerte Mannequins im Foyer stehen - erinnert der Bau an Le Corbusier’s Villa Savoy, welche solitär, als weisser Tempel auf einem grünen Hügel steht. Bei MVRDV wird weiss zu Beton und die Box gehorcht keinem goldenen Schnitt. Sie bleibt ungezähmt und roh und streckt der Umgebung nicht mehr als ihren entblössten Hintern, ihren nackten Körper, ihr ungeschminktes Gesicht entgegen. Ein Gesicht, wie nach einem Autounfall. Die innere Raumassemblage wird gegen aussen zur Leinwand. „Das traditionelle Konzept der Fassade scheint nicht mehr zu existieren. Die Gebäude stellen eine Art von generischem Schnitt aus. Ein Schnitt wie wenn man durchs Gebäude schneiden würde um hineinzuschauen.“ Schreibt Stan Allen, Architektur Assistenzprofessor an der Columbia Universität. Die Fassade wird zum exhibitionistischen Abbild der Innenwelt.

Theorie
An der Weltausstellung 2000 in Hannover radikalisiert sich das Manifest zur Umsetzung. Der holländische Pavillon – „the dutch big mac“ - wird zum kühnen Versuch, Hollands immergrüne Landschaften wie die Innereien eines Hamburgers aufeinander zu türmen. Eine auf den Fussabdruck von 32 mal 32 Metern komprimierte Welt, mit übereinander geschichteten synthetischen Traumlandschaften. Der Pavillon war eine Provokation, Architektur wurde Experiment, der Versuch, den Computer mit Daten zu füttern und ihn die Gestaltung übernehmen zu lassen. Der Wunsch, das Chaos der zeitgenössischen Stadt in reine Information zu übersetzen – eine Datenlandschaft, wie es MVRDV ausdrückt – und dann daraus die räumlichen Konsequenzen, durch Computer generierte Darstellung auszudrücken.
Über diese Herangehensweise hinaus, Architektur nicht als einen herkömmlichen Ausdruck von Körper, Struktur und Form zu betrachten, sondern als eine quasi wissenschaftliche Forschung über die sozialen und wirtschaftlichen Kräfte, welche die gebaute Umwelt beeinflussen, dient diese Datenlandschaft auch als Grundlage ihres unstillbaren Schaffens und gebauten Werks. MVRDV’s Oeuvre, ist die fortlaufende Suche und Sehnsucht diesen abstrakten Ketten aus Einsen und Nullen ein Gesicht abzuringen, um das Konzept Wirklichkeit werden zu lassen, in welchem sich abstrakte Information in greifbare Form verwandelt, um Le Corbusier’s Definition von Architektur als „dem grossartigen Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper“ um eine Dimension zu erweitern.

Die grünste aller Welten
Für das Wiederaufbau Projekt in New Orleans 2 Jahre nach dem Hurrican Katharina, schlugen MVRDV traditionelle Südstaaten Häuser, zweigeschossige Einfamilienhäuser mit vorgesetzter Veranda vor. Alle jedoch mit Hochwasserschutzmassnahmen, wie zum Beispiel nach oben geknickten Vorder- und Rückseiten und sehen aus, als wären sie unbewohnbar oder bereits beschädigt. Viele Kritiker waren entsetzt und vermuteten hinter der Eingabe eine politische Aussage und augenzwinkernde Ironie auf Kosten der anhaltenden Misere der Bewohner.
Andere wiederum sahen in diesem Vorschlag MVRDV`s bestes und konsequentestes Werk, bei welchem sich ihre formale Erfindungs- und Schaffungskraft am direktesten auf die sozialen und örtlichen Zustände und Probleme bezieht und diese in einem formalen Übersetzungsprozess schonungslos abbildet. Jene Direktheit, welche sich bei VPRO’s in den endlosen Räumen als Bedürfnis nach sozialer Verbindung, bei WoZoCos’s hängenden Boxen im Erhalt unberührter Grünflächen und bei der verdichteten Container Siedlung Silodam, welche einen intelligenten Weg findet arm und reich zu vermischen manifestiert und MVRDV zu ihrem anhaltenden Erfolg verhilft.
Den Namen MVRDV vergisst man nicht. Er beschreibt eine greifbare Utopie und liest sich, wie der Zutrittscode zu deren grenzenlosen Welt.

 

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